Große Erleichterung: Corona-Lockerungen bei „Leben mit Behinderung“

Zwischenbericht von Julia

Nachdem sowohl mir als auch den Bewohner:innen langsam die Ideen ausgingen, was man noch Neues tun kann, wie man die Tage vielfältig gestaltet, was man täglich kocht etc., gab es endlich gute Nachrichten.

Das strikte Kontaktverbot wurde aufgehoben und so langsam gaben die Tagesförderstätten und die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen erste Informationen darüber, wann und wie der Arbeitseinstieg ablaufen würde. Das führte zu großer Erleichterung sowohl auf Seiten der Bewohner:innen als auch bei mir. Das ständige „Nein.“ – „Weiß ich nicht.“ und „Hoffentlich bald.“ konnte ich ersetzen durch: „Deine Schwester holt dich am Wochenende ab und geht mit dir spazieren.“ – „Du kannst dich gerne draußen mit deiner Mutter treffen.“ und „Die Arbeit geht für dich ab … wieder los.“

Es gab wieder neue Geschichten zu erzählen, die Bewohner:innen mussten ihre Angehörigen nicht mehr vermissen, einige Bewohner:innen, die die  Zeit vorher bei ihren Eltern verbracht hatten um dem Kontaktverbot und den innerhalb der Hausgemeinschaft noch strengeren Regeln zu entgehen, kehrten nach Hause zurück. Es kam also wieder „frischer Wind herein“, und was noch schöner war, obwohl jetzt alle wieder mehr Freiheiten und Möglichkeiten hatten ihre Zeit individuell zu gestalten, die Tage draußen zu verbringen und das zu machen, worauf sie Lust hatten, ohne dabei auf Absprachen mit den Mitbewohner:innen oder Betreuer:innen zu achten, blieb das durch Corona entstandene Gemeinschaftsgefühl bestehen.

Vormittags ging jede:r ihrem/seinem Programm nach, ging laufen, war unterwegs, mit Freund:innen verabredet etc., aber gegen Nachmittag oder Abend kamen alle gerne nach Hause, erzählten sich gegenseitig erzählt, was sie unternommen hatten, aßen oder spielten zusammen – oder wir gingen gemeinsam nochmal raus und kauften uns ein Getränk am Kiosk.

Es hat sich einiges verändert bei Leben mit Behinderung in Hamburg

Abschlussbericht von Julia

Seit dem letzten Zwischenbericht hat sich in der Hausgemeinschaft wieder eine Menge verändert. Erste Reisen konnten stattfinden, die Bewohner:innen durften wieder alleine einkaufen und kleine Shopping-Touren machen. Die Mitarbeiter:innen haben wieder den Dienst aufgenommen, wenn auch bei den meisten nur die halbe Woche. Es durfte wieder Besuch kommen, es war den Bewohner:innen wieder möglich außerhalb der Einrichtung zu übernachten und ganz zum Schluss ist dann auch noch eine neue Bewohnerin eingezogen.

Viele Änderungen in kurzer Zeit. Für mich insofern schön, als dass wieder weniger los war und alle nochmal wieder mehr Ansprechpartner:innen außerhalb der Wohngemeinschaft hatten. Also eigentlich alles positiv bis auf die vom Träger vorgeschriebenen Besuchsregeln, für deren Einhaltung ich auf einmal verantwortlich war.

Was erstmal gut klang, wurde am Ende zu einer Herausforderung. Die Vorgaben beinhalteten, dass jede:r Besucher:in den Besuch vorher anmelden und sich dann im Büro melden musste, um (wie zu Corona-Zeiten in Restaurants üblich) seine/ihre Adresse, Telefonnummer… auf einem Besucher:innen-Formular zu hinterlassen und mit einer Unterschrift zu bestätigen, dass er/sie in letzter Zeit keinen Kontakt zu positiv auf Corona getesteten Menschen hatte.

Des Weiteren beinhalteten die Besuchsregeln, dass jeweils nur eine Person zu Besuch kommt (nicht mehrere gleichzeitig), dass die Besucher:innen während ihres Aufenthalts in der Wohngemeinschaft Masken tragen, sich möglichst nicht in Gemeinschaftsräumen aufhalten und dass nur feste Partner:innen über Nacht bleiben dürfen.

Klang für mich erstmal nicht so kompliziert, doch als sich die ersten Besucher:innen nicht an die Maskenpflicht hielten, sich in Gemeinschaftsräumen aufhielten und sich weder an- noch abmeldeten, fühlte ich mich genauso überfordert wie in den Momenten, als zwei Bewohner:innen mir alle zwei Wochen erzählten, dass ihr „neuer“ Freund heute Nacht bei ihnen schlafen würde. Das stellte mich oft vor einen inneren Konflikt.

Auf der einen Seite hatte ich die Pflicht dafür zu sorgen, dass die Regeln eingehalten werden, auf der anderen Seite konnte ich auch verstehen, dass so manche Regel für die Besucher:innen keinen Sinn ergibt. Warum sollten sie im Zimmer ihrer Angehörigen eine Maske tragen, wenn diese vor zwei Tagen bei ihnen übernachtet hat und dort keine Maske tragen musste? Und welches Argument habe ich, um zu verbieten, dass der dritte neue Freund in der Wohngemeinschaft übernachtet, wenn die Regeln besagen, dass Partner:innen über Nacht bleiben dürfen? So gab es eine Menge neuer Diskussionsthemen, die sich aber letztendlich doch haben klären lassen, zumal es mir wieder möglich war mich über diese Dinge mit Kolleg:innen zu beraten.

Alles in allem hat es sich für mich auf jeden Fall gelohnt, das zivile Engagement in der Wohngruppe zu machen. Weiterhin fast täglich länger auf der Arbeit bleiben kann ich mir erstmal nicht vorstellen, jedoch habe ich zu den Bewohner:innen eine viel bessere Beziehung aufgebaut und bin mit einigen von ihnen, die inzwischen ausgezogen sind, weiterhin regelmäßig in Kontakt. Bisher nur telefonisch, aber das eine oder andere Treffen wird sicher auch noch zu Stande kommen.

Freiwilliges Engagement für Menschen mit Behinderungen

Beitrag von Julia

© Phil Hubbe

Dieser Cartoon verbildlicht viele Momente, die ich in den fünf Jahren, die ich jetzt mit Menschen mit Behinderung arbeite, in den verschiedensten Momenten erlebt habe. Natürlich überspitzt aber trotzdem treffend. Oft sind Menschen, die bisher keinerlei Berührungspunkte zu Menschen mit Behinderungen hatten, sehr unbeholfen im Umgang mit ihnen.

So kommt es immer wieder zu unangenehmen Situationen. Von mitleidigen Blicken im Supermarkt bis hin zum peinlich berührten Lächeln habe ich schon viele Situationen miterlebt, in denen Menschen unnatürlich auf Menschen mit Behinderungen reagiert haben. Wenn Kinder ihre Eltern zum Beispiel fragten: „Was hat der Mann?“, flüsterten diese oft zurück, dass der „Mann“ eine Behinderung oder Krankheit hätte und lächelten mir im Anschluss daran zu. Es war deutlich zu erkennen, dass ihnen die Situation peinlich war.

Wenn ich dann mit Menschen über meine Arbeit spreche, kriege ich oft Aussagen zu hören wie: „Respekt! Das könnte ich nicht.“ Oder „Ich habe ja schon in vielen Bereichen gearbeitet, aber das habe ich mir nie zugetraut.“

Ich glaube, dass alle diese Aussagen und komischen Situationen nicht darauf zurückzuführen sind, dass Menschen mit Behinderung nicht gemocht oder nicht akzeptiert werden, sondern dass eine große Unsicherheit und Unbeholfenheit im Umgang mit Menschen mit Behinderung besteht, die nur dadurch aus dem Weg geschafft werden kann, dass ein Miteinander entsteht und immer mehr Berührungspunkte und Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen entstehen.

Und somit möchte ich an dieser Stelle Werbung machen für freiwillige Engagements in Wohngemeinschaften. Wenn man sich kurz darüber informiert, in welcher Form man sich bei einem Träger der Behindertenhilfe engagieren kann, wird schnell klar, dass es sich um Engagements handelt, die einem selbst alle Möglichkeiten der Gestaltung lassen und die zeitlich nicht belastend sein müssen. Die Website von Leben mit Behinderung Hamburg gibt einige Beispiele dafür: www.lmbhh.de/mitarbeiten/freiwilliges-engagement/

Darunter befinden sich viele Dinge, die zeitlich minimal aufwendig sind und die, wenn es einer:m Freiwilligen Sicherheit gibt, auch innerhalb der Wohngruppen stattfinden können, sodass im Notfall immer ein:e Ansprechpartner:in vor Ort wäre. Vorgeschlagen werden Aktivitäten wie gemeinsames Kaffeetrinken, Vorlesen, ins Kino gehen. Darüber hinaus fallen mir viele weitere Dinge ein, für die man wöchentlich nicht mehr als eine Stunde an Zeit aufbringen müsste. Kniffeln, Spazierengehen, Einkaufen, Quatschen, Kuchenbacken, Musizieren, Joggengehen und vieles mehr. Dabei ist es egal, ob einmal in der Woche, jede zweite Woche oder einmal im Monat.

Ich glaube, dass schon ganz wenig ganz viel bewirken kann und ich möchte alle, die Spaß an der Freude haben, dazu ermuntern einfach mal ein bisschen Zeit (auf welche Weise auch immer) mit Menschen mit Behinderung zu verbringen.