Beitrag von Madeleine
Es ist der Mittwoch vor Heiligabend. Ich bin auf dem 3-minütigen Fußweg von meiner Wohnung zur St. Georg-Kirche und ziehe meine Kapuze tiefer ins Gesicht, um mich vor dem Schneeregen zu schützen, der mich von allen Seiten anzugreifen scheint. Die Suppengruppe hat Dank des unermüdlichen Einsatzes des organisatorischen Kopfes der Gruppe eine Sonderausgabe auf die Beine gestellt, denn 2020 fallen der erste Weihnachtsfeiertag und Neujahr auf einen Freitag, also den Tag der Lebensmittelausgabe, sodass kurzerhand umdisponiert wurde. Wir hatten etwas Sorge, dass sich die Terminverschiebung von Freitag auf Mittwoch nicht so wirklich herumsprechen würde, doch bereits zwei Stunden vor Ausgabebeginn formiert sich eine Schlange an wartenden Gästen vor der St. Georg-Kirche.
Ich bin nun seit fast einem halben Jahr in der Suppengruppe tätig – ich kenne nun die meisten Gesichter und Namen meiner Kolleg*innen und viele Gesichter und die dazugehörigen Essensgewohnheiten und -geschmäcker, jedoch wenige Namen der Gäste. Ich kenne die Arbeitsschritte und -strukturen und habe die Corona-Richtlinien verinnerlicht, auf die wir während der Vorbereitung und während der Ausgabe achten müssen. Vielleicht kommt mir deswegen – weil nun mehr Zeit bleibt, um auf andere Sachen zu achten -, vielleicht auch weil ich selbst die nasse Kälte in den Knochen spüre, ein Gedanke in den Sinn, der mir zwar nicht neu ist, mich aber immer wieder aufs Neue einnimmt und mich ungläubig den Kopf schütteln lässt: Kein Mensch sollte 2 Stunden im Schneeregen anstehen müssen, um seine oder ihre rudimentäre Lebensmittelversorgung sichern zu können.
Was macht man mit einem solchen Gedanken? Ich stehe heute, an diesem Mittwoch vor Heiligabend, am Ende der Lebensmittelausgabe: Süßigkeiten. Die Tafel hat uns diesmal reichlich beliefert, wie so oft vor den Weihnachtsfeiertagen sind die Supermärkte voll. Es gibt grünen und weißen Spargel, isländischen Skyr-Joghurt in rauen Mengen und bei mir, in meiner Abteilung, eine ganze Palette an Lindt-Weihnachtsmännern. Kartoffeln sind hingegen Mangelware: Jeder Gast darf sich 4 aus der Kiste greifen, „damit alle etwas abbekommen“ – am Ende reicht es doch nicht. Ich hoffe, dass ich den Gästen mit den Weihnachtsmännern Freude bereiten kann und fühle mich gleichzeitig schäbig. Später werde ich eine warme Dusche nehmen und den Abend mit einem Buch in meinem warmen Bett verbringen.