Bericht von Madeleine
Wie jeden Freitag ist die Schlange der wartenden Gäste lang – sie windet sich über den Kirchhof, macht dann einen Knick und reicht um das Kirchengebäude herum. Die erstaunliche Länge der Schlange ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass zwischen den Wartenden der Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden muss – was manchmal schwer zu vermitteln ist, wenn die Gäste eigentlich zu fünft oder sechst das Leben bewältigen und sich nach der Essensausgabe auf der Bürgersteigkante um die Ecke zusammensetzen, um die ausgegebene Suppe gemeinsam zu verspeisen. Aber es leuchtet natürlich ein: die Essensausgabe darf unter bestimmten Hygiene-Vorschriften stattfinden, da muss die Einhaltung dieser natürlich gesichert sein. Und so übernimmt seit ein paar Monaten jemand aus dem Team die Aufgabe, die Gäste freundlich, aber bestimmt auf die Hygieneregeln hinzuweisen, was selbstredend immer verständnisvoll angenommen wird.
Während der eigentlichen Essensausgabe müssen wir jedoch mitunter energischer auf die Wahrung des Abstandes hinweisen. Es ist für mich absolut nachvollziehbar: auf einer meterlangen Tafel (im buchstäblichen Sinne) sind die Lebensmittel der Tafel (e.V.) aufgereiht, an der die Gäste der Reihe nach entlanggehen – und natürlich will man das Angebot begutachten, entsprechende Güter auswählen und einpacken. Und natürlich hat jeder und jede dafür ein anderes Tempo, wodurch der Abstand zwischen den Gästen manchmal kleiner, manchmal größer wird. Und dennoch müssen wie die Gäste immer wieder darauf hinweisen, dass der oder die Eine bitte schneller, der oder die Andere bitte langsamer voranschreiten möge.
Und obgleich ich natürlich verstehe, warum es die Hygiene-Vorschriften gibt und warum sie eingehalten werden sollten, finde ich die Situation schwierig: unseren Gästen muss der gleiche Anspruch auf Individualität, der gleiche Wert zugesprochen werden, wie jedem anderen Mitglied unserer Gesellschaft und ich habe bislang in keinem Supermarkt, in keiner U-Bahn, in keinem Zug jemanden gesehen, der die Gäste immer wieder zurechtgewiesen hat, weil Mindestabstände nicht eingehalten wurden.